Die meisten Menschen mögen keine Konflikte. Ich auch nicht. Und schon gar nicht mit dem Lieblingsmenschen. Dennoch sind sie Teil der meisten Partnerschaften. Einige Konflikte entwickeln sich so heftig und entstehen regelmässig, dass Paare nicht mehr weiter wissen und sich deshalb trennen. Beim genaueren Hinschauen zeigt sich, dass die Konfliktmuster auch in der neuen Partnerschaft wieder auftauchen. Das ist so, weil unsere alten Wunden in Heilung kommen wollen.
Dieser Blogartikel ist deshalb ein Plädoyer für Paarkonflikte und dafür, sie als grosse Chancen zu sehen, anstatt sie weghaben zu wollen. Unser:e Partner:in zeigt uns zielsicher, wo unsere Wunde ist. Das, was wir an unserem Lieblingsmenschen am meisten hassen, ist unser grösster:e Lehrmeister:in. Ich weiss, das willst du jetzt vielleicht nicht hören, ist aber so. Glaub mir, ich finde das auch nicht immer witzig. Aber mein Mann und ich sind seit einigen Jahren am Punkt, dass wir nicht mehr ausweichen, sondern uns gemeinsam entwickeln wollen. Trotz teilweise heftistger Konflikte. Vermutlich hat dies auch dazu beigetragen, dass ich mich zur Paartherapeutin weitergebildet habe, was leider, leider nicht bedeutet, dass ich in der Partnerschaft keine Fehler mache.
Kontakt findet an der Grenze statt
Die Aussage „An der Grenze findet Kontakt statt“ stammt aus der Gestalttherapie, einer psychotherapeutischen Methode. Für mich bedeutet dieser Satz mit Blick auf Paarkonflikte, dass, wenn beide Paarteile ihre Grenzen erreichen, ihre inneren Wunden ohne Filter zum Vorschein kommen. Authentisch, ungeschinkt. Ja, manchmal in sehr unschöner Form, wie physische oder verbale Angriffe, Manipulation, Ignorieren oder physischer oder emotionaler Rückzug. Wenn es den Paaren gelingt, die Stopp-Taste zu drücken, genau in diesem Moment und von aussen zu schauen, was geschieht, dann sehen sie die Chance. Zugegeben, das ist sehr schwierig, weil die Emotionen die Kontrolle über uns übernommen haben und sie meistens ausagiert werden wollen. Dieses Ausagieren erzeugt leider Distanz, obwohl sich beide Paarteile eigentlich Verbindung wünschen.
Wir alle tragen Traumata in uns
Trauma. Ein grosses Wort, welches immer noch viele Menschen zusammenzucken lässt. Finden wir den Mut, hinzuschauen, wird sich vieles in unserem Leben verändern. Ich befasse mich gerade intensiv mit dem Thema Entwicklungstrauma, also den inneren Wunden aus unserer Kindheit. Auch ich liebe meine Eltern und will nichts Schlechtes über sie sagen. Viele Jahre war meine Standardaussage: "Ich hatte die perfekte Kindheit". Trotzdem beschlich mich immer wieder das Gefühl, dass da etwas nicht rund gelaufen ist. Seit vielen, vielen Jahren tauche ich immer tiefer und habe dabei auch sehr schmerzhafte Erkenntnisse, die Trauer und Wut auslösen. Obwohl ich nun glasklar erkenne, dass meine Eltern grosse Fehler bei meiner Begleitung durchs Leben gemacht haben, bin ich im Frieden mit ihnen. Anstatt ihnen die Schuld zu geben, habe ich mich entschieden, selbst Verantwortung zu übernehmen und mit Hilfe anderer Menschen meine Wunden zu heilen. Schritt für Schritt. Ich bin davon überzeugt, dass meine Eltern ihr Bestens gegeben haben und auch davon, dass dies die meisten Eltern tun. Aber ... sie haben eben selbst auch Wunden und diese prägen ihre Beziehung zu dir als Kind.
Hand aufs Herz, kennst du das?
Dein Vater war zwar physisch anwesend, aber irgendwie doch nicht erreichbar für dich. Oder, wenn es emotional wurde, zog er sich zurück. Du bekammst vor allem Aufmerksamkeit, wenn du gute Noten nach Hause gebracht oder eine tolle sportliche Leistung erzielt hast. Deiner Mutter ging es nicht gut und du warst permanent damit beschäftigt, sie aufzuheitern und wolltest ihr auf keinen Fall zusätlichen Kummer bereiten. Wenn du laut warst, ging deine Mutter weg und ignorierte dich. Usw. Das sind einige Beispiele, die ich sehr oft in meiner Praxis höre und ich weiss, dass dies nicht nur die Themen der Menschen sind, die zu mir in die Praxis kommen, sondern aller Menschen.
Was bedeutet das für das Paar?
Stell dir nun vor, wie sich dies in einer Partnerschaft auswirkt. Ich nehme Andreas und mich als Beispiel.
- Andreas trägt die tiefe Überzeugung bezüglich Beziehungen in sich, dass er leisten muss, um geliebt zu werden.
- Ich trage die tiefe Überzeugung bezüglich Beziehungen in mir, dass ich mich nur auf mich verlassen kann.
- Meine Vorwürfe: ich muss immer alles alleine tun.
- Seine Reaktion: ich genüge nicht und dann folgt der Rückzug.
- Meine Reaktion: genau davor habe ich Angst und meine tiefe Überzeugung wird bestätigt, dass ich tatsächlich alles alleine tun muss.
Anstatt diesen Konflikt immer und immer wieder zu reinszenieren, arbeiten wir beide an unseren Bindungsverletzungen, die aus der Zeit stammen, als wir noch Kinder waren. Die Beziehungen zu unseren Eltern prägen ALLE unsere Beziehungen. Ich habe gehört, dass dies z.B. auch für die die Beziehung zu Geld gilt.
Mal soviel.
Wie geht es dir jetzt nach dem Lesen?
Herzlich, Sandra